Die Anwendung statischer und dynamischer Dehnung zur Verletzungsprävention vor der Belastung
Guideline für Athleten und Trainer
1. Einleitung
Die statische Dehnung als Teil des Warm-Ups ist bei vielen Sportlern sehr verbreitet. Die Meinungen über die Effekte des Stretchings reichen von „unbedingt notwendig um Verletzungen vorzubeugen“ bis „kontraproduktiv, da es die Leistungsfähigkeit einschränkt“ oder sogar „gefährlich, weil es das Verletzungsrisiko steigert“. Diese Guideline soll unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten Licht ins Dunkel bringen und eine konkrete Anleitung zur optimalen Anwendung eines Dehnprogramms zur Verletzungsprävention geben. Hierzu wurden aktuelle Reviews und Studien über die Effekte von statischer und dynamischer Dehnung vor der Belastung zur Verletzungsprävention durchsucht.
1.1 Ziele des Dehnens
Die vermeintlichen Ziele des Dehnens sind vielfältig. Um die Effekte der Dehnung beurteilen zu können, müssen folgende Unterscheidungen erfolgen:
- Langfristige vs. kurzfristige Effekte des Dehnens
- Dehnung vor der Belastung vs. Dehnprogramm als separate Einheit
Der Grad der erforderlichen Flexibilität des Muskel-Sehnen-Apparates hängt von der ausgeübten Sportart ab. Sportarten wie Turnen erfordern eine große Range of motion (ROM; Bewegungsausmaß innerhalb eines Gelenks). Daher macht das Beweglichkeitstraining in Form von Dehnungen einen großen Teil des Trainingsprogramms aus. Das langfristige Ziel der Dehnung für Sportler mit großer ROM ist also die Erhöhung der Flexibilität über eine Strukturveränderung der Muskeln. Z.B. Laufsportarten hingegen erfordern eine deutlich geringere ROM. Hierbei steht die Frage der Verletzungsprävention über die Senkung der Muskelsteifigkeit (besser: Muscle Stiffness) im Vordergrund. Die Korrelation zwischen Flexibilität der Muskeln und Verletzungsrisiko wird im Hauptteil geklärt.
Der o.g. möglichen Korrelation zwischen Flexibilität und Verletzungsrisiko schließt sich auch die Frage des optimalen Zeitpunkts des Dehnprogramms an. Ist die Integration ins Warm-Up-Programm sinnvoll oder sollte besser eine separate Dehneinheit in den Trainingsalltag integriert werden? Für die Integration ins Warm-Up spricht das Ziel der Durchblutungsförderung und der damit verbundenen Erhöhung der Viskoelastizität und damit der Flexibilität des Gewebes durch die Dehnung.
1.2 Art der Dehnung: Statische vs. dynamische Dehnung
Die wohl am häufigsten gewählte Form der Dehnung ist die statische Dehnung. Hierbei wird der Muskel passiv in seine verlängerte Position gebracht und dort über einen gewissen Zeitraum gehalten. Bei der dynamischen Dehnung wird der Muskel in kontrollierten Bewegungen über die gesamte aktive ROM gefordert (Behm, D. G., & Chaouachi, A. 2011). Im Folgenden wird geklärt, welche Form der Dehnung sinnvoller ist.
Alle o.g. Zwecke der Dehnung zielen auf das Hauptziel der Verbesserung der Compliance des Muskels ab. Die Erläuterung hierzu folgt.
Die zentrale Frage dieser Guideline ist also:
Kann die Dehnung der Muskulatur Verletzungen
-insbesondere Muskelzerrungen- vorbeugen?
2. Die statische Dehnung zur Verletzungsprävention
Folgende Faktoren spielen bei der Inzidenz von Muskelzerrungen und Muskelfaserrissen eine Rolle:
- Alter (McHugh, M. P., & Cosgrave, C. H. 2010)
- Vergangene Muskelzerrungen (McHugh et al. 2010)
- Schwäche eines Muskels in Relation zum Antagonisten (Muskel der die entgegengesetzte Bewegung in einem Gelenk durchführt) oder desselben Muskels der kontralateralen (gegenüberliegenden) Seite (McHugh et al. 2010)
- Fitnesslevel (Small, K., Mc Naughton, L., & Matthews, M. 2008)
2.1 „Verkürzungen“
Eine Muscle Stiffness scheint mit der Verletzungswahrscheinlichkeit (Inzidenz) in Korrelation zu stehen. Das stellt jedoch noch keinen direkten Zusammenhang (Kausalität) dar (Small et al. 2008). Ähnlich formulieren es McHugh et al. Die eingeschränkte Flexibilität eines Muskels stellt keinen Faktor für Muskelzerrungen dar. Daraus wiederum ist jedoch nicht der Umkehrschluss zu ziehen, dass Dehnungen nicht vor solchen Verletzungen schützen können.
2.2 Der Verletzungsmechanismus bei Muskelzerrungen und die Theorie des Dehnmechanismus zur Verletzungsprävention
Um eine Entscheidung über die Art und Weise der Dehnung zur Verletzungsprävention treffen zu können, ist es hilfreich, den Mechanismus von Muskelzerrungen zu kennen.
Wie kommen Muskelzerrungen zustande?
Muskelzerrungen und Muskelfaserrisse geschehen meist bei Bewegungen, in denen ein Muskel eine hohe exzentrische Kraft aufbringen muss. Im exzentrischen Teil einer Bewegung muss der Muskel in seiner verlängerten Position eine Bewegung abbremsen. Beispiel Sprint: Das Bein wird durch eine schnelle Hüftbeugung schwungvoll nach vorne gezogen. Die hintere Oberschenkelmuskulatur hat dabei die Funktion den Schwung und die damit verbundene Streckung des Knies und Beugung der Hüfte abzubremsen. Kann der Muskel der Belastung nicht standhalten, kommt es zur Muskelzerrung oder zu vereinzelten Muskelfaserrissen.
2.3 Der Einfluss des Dehnens auf den Verletzungsmechanismus
Die möglichen Wirkungen einer Muskeldehnung mit dem Ziel der Erhöhung der Compliance der muskulotendinösen Einheit (Muskel und Sehne) wurden in der Einleitung angesprochen. Die dahinter stehende Theorie ist folgende: Mit erhöhter Compliance der muskulotendinösen Einheit kommt es zu einer Verschiebung des maximalen Drehmoments des Muskels in Richtung der verlängerten Position. Das bedeutet, dass der Muskel in seinem verlängerten Zustand mehr Kraft entwickeln kann.
Studien zeigen, dass die Dehnung unter bestimmten Voraussetzungen einen positiven Einfluss auf die Prävention von muskulären Verletzungen haben kann (McHugh et al. 2010).
Primäres Ziel der Dehnung vor der Belastung ist also die Verbesserung der Compliance des Muskels. Welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um dieses Ziel zu erreichen, folgt im nächsten Abschnitt.
Relativ eindeutig sind die Untersuchungen über die Wirkung von Dehnungen auf Verletzungen die auf Über- oder Fehlbelastungen wie Frakturen, Bänderrisse oder Tendinopathien (Sehnenreizung) zurückzuführen sind. Hier besteht kein positiver Einfluss auf das Verletzungsrisiko (McHugh et al. 2010; Small et al. 2008).
3. Die Kehrseite der Dehnung vor der Belastung
Auch, wenn davon auszugehen ist, dass die Dehnung das Risiko von muskulären Verletzungen wie Zerrungen senken kann, hat die statische Dehnung doch eine Kehrseite.
Wie oben beschrieben, kann die Dehnung viele Wirkungen haben. Negativen Einfluss hat die Dehnung vor dem Sport auf die neuromuskuläre Leistungsfähigkeit. Konkret bedeutet das, dass sich über die Verlangsamung des Dehnungs-Verkürzungs-Zyklus die Sprungkraft und Sprintfähigkeit kurzfristig verschlechtert (Kallerud et al. 2013). Dies kann sogar das Verletzungsrisiko steigern!
3.1 Methoden der Dehnung für einen verletzungspräventiven Effekt
3.1.1 Belastungsparameter
Entscheidend für das Erreichen der o.g. Ziele über eine Dehnung ist die Dauer über die ein Muskel in der Dehnposition gehalten wird. Dehnprogramme mit unterschiedlichen Dehndauern wurden untersucht. Dabei zeigte sich, dass eine Dehnung über 4-Mal 30 Sekunden (gesamt: 2 Minuten) oder über 2-Mal 45 Sekunden (gesamt: 1,5 min) nicht ausreicht, um den passiven Widerstand des Muskels herabzusetzen (McHugh et al. 2010). Der Effekt der kurzen Dehndauer wird durch eine Statistik aus einer Studie mit Armeerekruten verdeutlicht (Pope, R. P., Herbert, R. D., Kirwan, J. D., & Graham, B. J. 2000).
Die Ergebnisse wurden so zusammengefasst, dass sich die Teilnehmer der Studie 23 Jahre lang regelmäßig vor der sportlichen Belastung hätten dehnen müssen, um nur eine Verletzung zu vermeiden.
Einen signifikanten Effekt auf die Verletzungsprävention wird durch ein Dehnprogramm mit einer Dauer von 5-mal 60 Sekunden oder 4-Mal 90 Sekunden pro Muskel erreicht (McHugh et al. 2010). In diesem Fall ist auch zu erwarten, dass der Effekt länger als 10 Minuten nach der Intervention bestehen bleibt.
3.1.2 Die dynamische Dehnung
Auch, wenn der unerwünschte Nebeneffekt der oben beschriebenen neuromuskulären Leistungsminderung nicht für alle Sportarten relevant ist, wäre dennoch eine Dehnmethode erstrebenswert, die diese Leistungsdefizite nicht hervorruft. Einige Untersuchungen befassen sich mit den Effekten des dynamischen Dehnens.
Was ist dynamisches Dehnen?
Die dynamische Dehnung ist die Dehnung der Muskulatur in kontrollierten Bewegungen am Ende der je
weiligen Bewegungsamplitude.
Es zeigte sich, dass das dynamische Dehnen zu denselben positiven Effekten wie das statische Dehnen führt, jedoch ohne die neuromuskuläre Leistungsfähigkeit kurzfristig zu mindern (Kallerud et al. 2013; McHugh et al. 2010).
3.1.3 Die Kombination mit der myofaszialen Selbstmassage
Eine andere Option ist die Kombination aus Dehnung und myofaszialer Selbstmassage (MfSm). Durch die Anwendung der Selbstmassage vor der Belastung sind keine Leistungsdefizite zu erwarten (Škarabot, J., Beardsley, C., & Štirn, I. 2015). Die MfSm allein reicht jedoch nicht aus, um den passiven Widerstand des Muskels herabzusetzen, was, wie oben beschrieben, ein angestrebter Effekt zur Verletzungsprävention sein sollte.
4. Fazit/Empfehlungen
Um einen Effekt über die Dehnung vor der sportlichen Belastung zur Prävention muskulärer Verletzungen zu erreichen, sollten folgende Punkte erfüllt sein:
- Die dynamische Dehnung ist vor der Belastung zur Vermeidung einer möglichen neuromuskulären Leistungsminderung der statischen Dehnung vorzuziehen.
- Die Gesamtdauer von 5 Minuten (z.B. 4-Mal 90 Sekunden oder 5-Mal 60 Sekunden) für die Dehnung eines Muskels sollte nicht unterschritten werden.
- Für die Praktikabilität des Dehnprogramms, ist es empfehlenswert sich auf die Muskeln zu beschränken, die zu Zerrungen neigen. Für die Dehnung der rückwärtigen Oberschenkelmuskulatur und der Adduktoren beispielsweise sollten alleine etwa 15 Minuten eingeplant werden.
- Zur langfristigen Verringerung des passiven Widerstands der Muskeln sollten insbesondere für Athleten mit Neigung zu Muskelzerrungen separate Dehneinheiten eingeplant werden.
Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass das Dehnprogramm nur einen Teil des Warm-Ups darstellt. Das Ziel der Erwärmung der Muskulatur wird durch ein Dehnprogramm alleine nicht erreicht. Zur Vorbereitung auf die bevorstehenden Belastungen und zur optimalen Verletzungsprävention sollte vor jeder Trainingseinheit oder jedem Wettkampf ein neuromuskuläres Warm-Up durchgeführt werden.
Referenzen:
Behm, D. G., & Chaouachi, A. (2011). A review of the acute effects of static and dynamic stretching on performance. European journal of applied physiology, 111(11), 2633-2651.
Kallerud, H., & Gleeson, N. (2013). Effects of stretching on performances involving stretch-shortening cycles. Sports medicine, 43(8), 733-750.
McHugh, M. P., & Cosgrave, C. H. (2010). To stretch or not to stretch: the role of stretching in injury prevention and performance. Scandinavian journal of medicine & science in sports, 20(2), 169-181.
Pope, R. P., Herbert, R. D., Kirwan, J. D., & Graham, B. J. (2000). A randomized trial of preexercise stretching for prevention of lower-limb injury.Medicine and science in sports and exercise, 32(2), 271-277.
Škarabot, J., Beardsley, C., & Štirn, I. (2015). COMPARING THE EFFECTS OF SELF‐MYOFASCIAL RELEASE WITH STATIC STRETCHING ON ANKLE RANGE‐OF‐MOTION IN ADOLESCENT ATHLETES. International journal of sports physical therapy, 10(2), 203.
Small, K., Mc Naughton, L., & Matthews, M. (2008). A systematic review into the efficacy of static stretching as part of a warm-up for the prevention of exercise-related injury. Research in Sports Medicine, 16(3), 213-231.